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Viele statt eine/r

Bäume werden oft als wunderbare Lehrmeister*innen bezeichnet.  Vor Kurzem entdeckte ich einen nicht allzu großen Baum, unter dem hunderte Zapfen liegen. Warum macht der Baum das? Mehr als zwei bis drei Nachkommen gehen sich auf diesem Platz doch gar nicht aus. Ist diese Strategie von der Angst getrieben, zu viele fressfreudige Lebewesen könnten die Samen vernichten? Oder geht es um ein übertriebenes Geltungsbewusstsein, an möglichst vielen Orten müsste Dank großräumiger Verteilung über „Mittelsmänner“ wie Vögel, Eichhörnchen & Co. der eigene Genpool zu seinem Recht kommen?

Es hat einige Zeit gebraucht, bis mir aufgegangen ist, wie eindimensional ich denke. Wer sagt denn, dass Zapfen und deren Samen nur zur Fortpflanzung gut sind? Auch die Mäuse, Ameisen, Pilze, Bakterien und eine Vielzahl von Insekten nähren sich von den Zapfen und Samen, zersetzen sie … bis sie Teil der fruchtbaren Erde werden, aus der der Baum und alles um ihn – von diesen Lebewesen perfekt aufbereitet – Nährstoffe gewinnt. In einem gesunden Ökosystem findet kontinuierliches Geben und Nehmen auf vielen Ebenen statt. Stets geht es darum, die eigene Angewiesenheit anzuerkennen und zugleich in vielfältiger Weise Initiative zu ergreifen, wo es etwas aus dem Eigenen beizutragen gilt. Ein dichtes Netz an Wechselwirkungen schwingt sich in je neue Lebensstadien und Gegebenheiten ein und ermöglicht ungeahnte Lebendigkeit.

Bei mir selbst und meinen Coachees taucht öfters die Frage auf: Was ist Meines: mein Beitrag, meine besondere Fähigkeit, was genau steht bei meinem nächsten beruflichen Schritt an, was macht Sinn, was passt zu mir …? Damit einher geht die Sorge, es gäbe „die“ Chance bei Schopf zu ergreifen, „die“ Berufung zu erkennen, „die“ richtige Spur, Ausbildung, Bewerbung, Strategie … zu wählen.

Ich werde noch länger über den Baum und seine vielen Zapfen nachdenken. Einige Dinge sind mir schon aufgegangen:

  • Auf den ersten Blick „zeigt“ sich bei Beobachtungen meist nur jenes, was ich vorab schon vermute, und verleitet zu verkürzten Schlussfolgerungen. Im geduldigen Betrachten v.a. unspektakulärer Prozesse und im Einbeziehen möglichst vieler Mitakteur*innen lässt sich mehr vom Ganzen erkennen. Das Wesentliche geschieht im Dazwischen.

  • Je nach Lebensabschnitt und besonderen Herausforderungen, in denen ich mit anderen Menschen und meiner Mitwelt verwoben bin, gibt es je neue Möglichkeiten meinerseits Wichtiges beizutragen und auf meinem Weg unterstützt zu werden. Es lohnt sich neugierig zu sein und die Augen offen zu halten – für jetzt und die nächste Zeit, es braucht bei den meisten Dingen nicht gleich ein für alle Mal zu sein.

  • Ich bin mir nicht sicher, ob wir das biblische Gleichnis vom Sämann (Mt 13, 3-8) bisher wirklich verstanden haben. Möglicherweise geht es nicht darum, dass nur ein Bruchteil des gesäten Getreides Frucht bringt, sondern um das Vertrauen ins Leben, das großzügig aussät, weil es viele Wege kennt, dem Leben zu dienen.
     

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