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Schachtelhalme - vermutlich

Lerneinblicke

Als ich das Wort "systemisch" vor 25 Jahren zum ersten Mal hörte, meldete ich mich im Seminar zu Wort und fragte höflich nach, ob hier das "at" vergessen worden sei: systematisch? − Kein Scherz!

 

Heute ist für mich "systemisch" mehr als der Eigenname für eine spezifische Beratungsausbildung. Dank wunderbarer Lehrender, die mir nach und nach eine Welt der Zusammenhänge und der Verflochtenheit, der wechselseitigen Lernprozesse und Vieles mehr eröffnet haben, bin ich dabei, schrittweise systemischer[1] in meinem Denken, Fühlen und Handeln zu werden. Dieser Weg ist faszinierend und hat Auswirkungen auf meine Art und Weise mit meinen KundInnen Fragen zu stellen, Richtungen anzuvisieren, Lösungen zu suchen und nächste Schritte zu entwerfen.
 

[1] Den Begriff systemischer prägten Insa Sparrer und Matthias Varga von.Kibéd, vgl. SyStemischer 1/2012, 6-15.

Falls Sie interessiert, wo ich zu ahnen beginne, dass es etwas Wertvolles zu finden gibt, lade ich Sie ein, im Folgenden meinen Kurzbeiträgen zu folgen. ​​​​​​​​

In den letzten Jahren habe ich mehrere ausführliche Artikel im Kontext Coaching & Organisationsberatung verfasst und veröffentlicht.

Sich der Komplexität stellen - Teil 1 "Kategorien bilden"

Sich der Komplexität stellen - Teil 2 "Dinge ordnen"

Teamcoaching - begleitetes Beginnen

Wie Coaching unterstützt, um zu verändern, zu akzeptieren und zu unterscheiden

Entwicklung anders verstehen

Syntaktischere Beratung - ein Praxisbeispiel
verfasst gemeinsam mit Brigitta Hager
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See unter bewölktem Himmel auf den Western Isles, Schottland

Wenn sich so viel im Wandel befindet, stellt sich mehr denn je die Frage nach jenem, das bleibt. Bin das noch ich, ist das noch die mir vertraute Gesellschaft oder vielleicht auch unser Unternehmen mit dem Profil, das mir/uns am Herzen liegt? Wieviel Veränderung gelingt es zu integrieren und wo braucht es Abgrenzung?


Fritjof Capra und Daniel Christian Wahl führen 2023 ein faszinierendes Gespräch und ich bin versucht, ganz kurz vorab meine Kenntnisse hinsichtlich Zellbiologie aufzufrischen: Die Funktion der Zellmembran wird meist mit „Abgrenzung der Zelle gegen die Umgebung“ beschrieben und im nächsten Atemzug mit mindestens 7 verschiedenen Proteintypen (Typen!) ergänzt. Sie öffnen die Zelle für Ionen, Moleküle usw., die sich hinein in die Zelle und nach außen bewegen oder sie mit anderen Zellen verbinden. Wer ein schematisches Bild mit all diesen „Kanälchen“ einer Zellmembran sieht, würde es kaum mehr mit „Abgrenzung“ betiteln.


Zurück zum Gespräch von Fritjof Capra und Daniel Christian Wahl – mit einem aus dem Englischen übersetzten Ausschnitt:

Fritjof Capra: Regeneration ist der entscheidende Prozess des Lebens. Wenn man sich eine einzelne Zelle ansieht, um das einfachste Beispiel eines lebenden Organismus zu nehmen, dann stellt man fest, dass die Zelle ein Netzwerk von Prozessen ist - in Fachkreisen als Autopoiesis bekannt. [...] Worum geht es dabei? Es geht darum, dass die Zelle sich selbst regeneriert: Sie regeneriert, ersetzt, erneuert jeden Bestandteil. Das zelluläre Netzwerk macht das selbst, es organisiert sich also selbst. Das ist die wesentliche Aktivität des Lebens. Wenn man philosophisch werden will, kann man auch sagen: Das ist der Sinn des Lebens oder der Zweck des Lebens. Welche Begriffe man auch immer verwendet, man erkennt, dass das Leben aufhört, wenn die Regeneration aufhört. Das ist wirklich die Essenz des Lebens, und ich denke, das ist eine wichtige Erkenntnis.


Daniel C. Wahl: Man kann das auch auf der Ebene der Organe sehen, wo sich die Zellen innerhalb eines bestimmten Organs selbst ersetzen [...]. Wir sind nicht mehr derselbe Mensch, der wir vor sechs Jahren waren, wir haben uns seitdem mehrfach regeneriert.


Fritjof Capra: Ja und nein. Wir sind nicht dieselbe Person, aber in einem anderen Sinne sind wir es doch. Denn die Identität hängt nicht von den tatsächlichen materiellen Strukturen ab, die ständig erneuert und regeneriert werden. Die Identität besteht aus den Beziehungsmustern, die ein Lebewesen ausmachen. Es sind die Beziehungen in uns selbst und die Beziehungen zu unserer Umwelt. [...] Ich hätte mich vorher vorstellen können und sagen: ich bin Wissenschaftler und Autor; ich hätte auch sagen können, ich bin Philosoph, […] ich bin Vater oder ich bin Tennisspieler oder ich bin Jazzfan. All das beschreibt mich, und es ist eine Beschreibung in Form von Beziehungen zu anderen Lebewesen, Beziehungen zur Umwelt und natürlich historischen Beziehungen und genetischen Beziehungen zu unseren Vorfahren. Das ist es, was die Identität eines Lebewesens ausmacht. [...] Und dies war auch eine zentrale Botschaft von Gregory Bateson, [...] dass die Sprache der Natur eine Sprache der Beziehungen ist und dass das Verständnis des Lebens bedeutet, Beziehungen zu verstehen.

 

https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=MiUGKfJV5E0 17.03.2023  

Worum es beim Lernen eigentlich geht

Inhalt einer Reisetasche wie Shirts, Socken usw.

Ich war wieder auf Reisen, diesmal alleine unterwegs in meinem geliebten Schottland auf abgelegenen Inseln. Nicht alles ist so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hätte und doch bin ich so unglaublich reich beschenkt nach Hause zurückgekehrt:

 

  • reich an großzügigen Begegnungen und Gesprächen von Mensch zu Mensch, meist ungeplant, einfach so, mit  vertrauensvoller wechselseitiger Offenheit und Annahme, 

  • reich an Ausblicken über einsame, stürmische Klippen hinaus auf die kraftvolle See, an wechselnde Winde und Wetterstimmungen, Sonne und Regen

  • reich an Einblicken in individuelle und kulturelle Besonderheiten, die mir vor Augen geführt haben, wie wenig selbstverständlich ist, was mir so selbstverständlich erscheint, 

  • reich an Erfahrungen bei mir selbst zuhause zu sein, mit meinem eigenen Potential, meinen Bedürfnissen und meinen Grenzen

Umso mehr mag es erstaunen, wenn ich danach als spontanes Resumé zu sagen versucht bin: „Ich bin 54 Jahre alt und habe keine Ahnung, was das Leben ist!“ Es ist unfassbar, was ich erlebt habe, unfassbar schön, unfassbar anders, und manchmal auch unfassbar herausfordernd. Wie kann man in zwei Wochen so viel lernen? Wie ist es möglich, dass sich in zwei Wochen in meinem Denken und Wahrnehmen so viel „ver-rückt“ und einen neuen Platz sucht?
 

Zuhause stoße ich auf ein Zitat von Nora Bateson, aus dem Vorwort zur Edition von 2023 zu Gregory Bateson, A Sacred Unity - Further Steps To An Ecology Of Mind und ich weiß mich dankbar in meinem Suchen gefunden:

"Es gibt ein notwendiges Durcheinander. Was ich gelesen habe, ist, dass es wichtig ist, eine Beschreibung auszuprobieren, eine Beschreibung zu ändern, etwas aus einer Richtung wahrzunehmen, sich zu bewegen, es aus einer anderen wahrzunehmen - wir beschreiben es. So erhält man nicht unbedingt Klarheit, aber man erhält die Möglichkeit einer Wahrnehmung, die sich verändern kann. Und diese Wahrnehmung, die in der Lage ist, sich zu verändern, wird die Welt nicht unbedingt klarer sehen, aber sie wird in der Lage sein, mit einer Welt in Bewegung zu tanzen."xvi (nicht autorisierte Übersetzung)

Original:

"There's a necessary muddle. What I read is that it's important to try a description, change a description, perceive something from one direction, move, perceive it from another - we describe it. So that what you get is not necessarily clarity, but you get the possibility of a perception that can shift. And that perception, which is able to shift, is not necessarily going to see the world more clearly, but it will be able to dance with a world-in-motion." xvi

Viele statt eine/r

Kiefernzapfen - en masse unter einem Baum

Bäume werden oft als wunderbare Lehrmeister*innen bezeichnet.  Vor Kurzem entdeckte ich einen nicht allzu großen Baum, unter dem hunderte Zapfen liegen. Warum macht der Baum das? Mehr als zwei bis drei Nachkommen gehen sich auf diesem Platz doch gar nicht aus. Ist diese Strategie von der Angst getrieben, zu viele fressfreudige Lebewesen könnten die Samen vernichten? Oder geht es um ein übertriebenes Geltungsbewusstsein, an möglichst vielen Orten müsste Dank großräumiger Verteilung über „Mittelsmänner“ wie Vögel, Eichhörnchen & Co. der eigene Genpool zu seinem Recht kommen?

Es hat einige Zeit gebraucht, bis mir aufgegangen ist, wie eindimensional ich denke. Wer sagt denn, dass Zapfen und deren Samen nur zur Fortpflanzung gut sind? Auch die Mäuse, Ameisen, Pilze, Bakterien und eine Vielzahl von Insekten nähren sich von den Zapfen und Samen, zersetzen sie … bis sie Teil der fruchtbaren Erde werden, aus der der Baum und alles um ihn – von diesen Lebewesen perfekt aufbereitet – Nährstoffe gewinnt. In einem gesunden Ökosystem findet kontinuierliches Geben und Nehmen auf vielen Ebenen statt. Stets geht es darum, die eigene Angewiesenheit anzuerkennen und zugleich in vielfältiger Weise Initiative zu ergreifen, wo es etwas aus dem Eigenen beizutragen gilt. Ein dichtes Netz an Wechselwirkungen schwingt sich in je neue Lebensstadien und Gegebenheiten ein und ermöglicht ungeahnte Lebendigkeit.

Bei mir selbst und meinen Coachees taucht öfters die Frage auf: Was ist Meines: mein Beitrag, meine besondere Fähigkeit, was genau steht bei meinem nächsten beruflichen Schritt an, was macht Sinn, was passt zu mir …? Damit einher geht die Sorge, es gäbe „die“ Chance bei Schopf zu ergreifen, „die“ Berufung zu erkennen, „die“ richtige Spur, Ausbildung, Bewerbung, Strategie … zu wählen.

Ich werde noch länger über den Baum und seine vielen Zapfen nachdenken. Einige Dinge sind mir schon aufgegangen:

  • Auf den ersten Blick „zeigt“ sich bei Beobachtungen meist nur jenes, was ich vorab schon vermute, und verleitet zu verkürzten Schlussfolgerungen. Im geduldigen Betrachten v.a. unspektakulärer Prozesse und im Einbeziehen möglichst vieler Mitakteur*innen lässt sich mehr vom Ganzen erkennen. Das Wesentliche geschieht im Dazwischen.

  • Je nach Lebensabschnitt und besonderen Herausforderungen, in denen ich mit anderen Menschen und meiner Mitwelt verwoben bin, gibt es je neue Möglichkeiten meinerseits Wichtiges beizutragen und auf meinem Weg unterstützt zu werden. Es lohnt sich neugierig zu sein und die Augen offen zu halten – für jetzt und die nächste Zeit, es braucht bei den meisten Dingen nicht gleich ein für alle Mal zu sein.

  • Ich bin mir nicht sicher, ob wir das biblische Gleichnis vom Sämann (Mt 13, 3-8) bisher wirklich verstanden haben. Möglicherweise geht es nicht darum, dass nur ein Bruchteil des gesäten Getreides Frucht bringt, sondern um das Vertrauen ins Leben, das großzügig aussät, weil es viele Wege kennt, dem Leben zu dienen.
     

Kein Gewinnen "gegen" ...

Gullfoss Wasserfälle, Island

2015 durfte ich einige Tage auf Island verbringen – ein seit meiner Kindheit gehegter Traum wurde wahr! Wie ein Vorwort für meine Erkundungen erwartete mich auf dem Wohnzimmertisch unseres Gastgebers in Reykjavik ein Buch mit großartigen Luftbildaufnahmen und Texten von Gudmundir Andrei Thorsson. Es eröffnete mir den Blick für ein Land, in dem die unfassbar kraftvolle Mitnatur − geprägt von geologischen Bruchlinien, Vulkanen, stürmischem Nordmeer, Mitternachtssonne, Wind, Wetter und robusten kleineren und größeren Lebewesen − dem Menschen da und dort seinen Platz zuweist. Hier darf er sein, wenn er sich entsprechend einfügt. In diesem scheinbar so abgegrenzten Land sind Wechselwirkungen leichter erkennbar, auch dann, wenn sich der Mensch gegen seine Mitnatur wendet. Ich war unglaublich beeindruckt von diesem Land und den Menschen, denen ich dort begegnete. Ich verließ es mit einem leisen Bedauern, dass ich vermutlich nicht stark genug bin, um hier längerfristig zu leben.


Gestern unterhielten wir uns bei einer online-Gesprächsrunde darüber, was es bedeuten könnte, auf eine Weise zu leben, die Zukunft hat. Ich erzählte von meinen Eindrücken in Island. Julia Macintosh hörte aufmerksam zu und gab schließlich mit frappierender Punktlandung zu bedenken: Möglicherweise könnte „stärker zu werden“ bedeuten, fähig zu sein, in mehr Ko-Existenz zu leben.


Abends folgte ich den Gesprächen im Rahmen der Bateson Anniversaries zu Ecology & Multiple Description und erneut wurde ich mit einem Puzzleteil beschenkt – schon oft gehört und doch erst jetzt wirklich begriffen. Rex Weyler formuliert auf den Spuren Gregory Batesons: Es gibt keine scharfen Grenzen, nicht zwischen den kleinsten Einheiten der Materie, nicht zwischen Menschen, nicht in der Mitnatur, nicht zwischen Menschen und Mitnatur. Wir sind zutiefst und unauflösbar miteinander verflochten. Und selbst wenn wir Grenzen ziehen, ist jede Grenze willkürlich und bildet nicht wirklich etwas ab. Es ist folglich eine Illusion zu glauben, wir könnten „gegen“ irgendjemanden oder irgendetwas „gewinnen“, sei es gegen Kräfte der Natur oder den Klimawandel, seien es politische oder kriegerische Parteien, sei es im Kampf um die Meinungsführerschaft oder den rechten Weg zwischen jenen, die vehement für eine kapitalistische Ausbeutung oder  dezidierte ökologische Weichenstellungen eintreten … Es gibt kein "Gewinnen gegen ...". Ein erster Schritt, diesem Umstand gerecht zu werden, liege in einer entsprechenden Sprache.


Wer sich die brennenden Fragen unserer Zeit zu Herzen nimmt, fragt sich meist kopfschüttelnd: Wo anfangen? Mehr denn je habe ich gestern gelernt: Mich selbst in eine Lebenskompetenz und Sprache der Ko-Existenz einzuüben, die vor nichts und niemandem eine Scheingrenze setzt, ist radikale Zuwendung zur Welt und eröffnet ein neues Verständnis von Stärke – im Kleinen wie im Großen.

Teams brauchen Pflege

Zahnbürste

Haben Sie eine Topfpflanze in Ihrer Wohnung oder Ihrem Büro? Wie halten Sie es mit Gießen: einmal beim Eintopfen und dann nie mehr? Wohl kaum.

Lebende Systeme haben es so an sich, dass sie neben einem hilfreichen Anschubimpuls immer wieder Standortbestimmung, Bestärkung, Nachjustierung, Verabschiedung und Neuintegration von Mitgliedern brauchen. Auch scheinbar unnötige Wiederholungen zählen dazu und sind keinesfalls Ausdruck mangelnder Zielorientierung und Professionalität. Matthias Varga von Kibéd gibt zu bedenken: Die meisten von uns putzen ihre Zähne täglich, haben aber noch nie in Zweifel gezogen, dass das sinnvoll sei, obwohl es der täglichen Wiederholung bedarf.

Der Grieche Heraklit würde sogar vermutlich bezweifeln, dass wir zweimal dieselben Zähne putzen. Er hat recht, wenn wir bedenken, wie sehr sich nicht nur bei den Beteiligten, sondern auch drumherum so Einiges in Veränderung befindet, das zu fortwährenden Balancierungen herausfordert. Teams „funktionieren“ folglich nicht nach dem Baustein-Prinzip: einen auf den anderen setzen und mit kalkulierbarer Progression eine stabile Höhe und Breite erzielen.

Wenn gerade wieder einmal allzu viel in Bewegung ist, kann sich für Führungskräfte die Frage nach der Sinnhaftigkeit ihrer Bemühungen einstellen: Worauf und auf wen lässt sich tatsächlich aufbauen? Was und wer bleibt? Die Antwort liegt nicht in verstärkten Kontrollreaktionen. Vielmehr ist die Kultur des Zusammenspiels der Beteiligten in Ausrichtung auf den gemeinsamen Auftrag entscheidend, die bei entsprechender Pflege durchaus längerfristig prägend und stärkend sein kann.


Navigieren in unbekannten Gewässern

Sonnenuntergang auf der Nordsee

In einer Phase großen Selbstbewusstseins meldete ich mich für eine Ausbildung an. Daher lerne ich aktuell als absolut See-Unerfahrene Theorie für das „internationale Küstenpatent 1“, den Segelschein, um innerhalb von 3 Seemeilen (5,5 km) von der Küste entfernt, segeln zu dürfen. Ich sitze über den Unterlagen und komme beim Kapitel „Navigation“ angesichts meiner Naivität kaum aus dem Staunen: Der geographische Nordpol stimmt nicht mit dem magnetischen überein: ok, das habe ich schon mal gehört, Relevanz für mich bislang gleich 0. Aber nicht nur, dass dieser Unterschied für mehrere Grad Differenz beim zu setzenden Kurs verantwortlich ist. Er bewegt sich von Jahr zu Jahr, weil unser eisenhältiger Erdmittelpunkt „herumschwappt“.

 

Dann gibt es alle Arten von Seezeichen, die am Tag mit Farben und Formen spielen und in der Nacht in bestimmten Intervallen und Farben mit jeweils spezifischer Bedeutung blitzen, blinken und funkeln – weil Orientierung kostbar ist, v.a. wenn es in Sichtweite nur Wasser gibt oder es finster ist. Nicht zu vergessen die Winde, die vielleicht gerade von der Sahara wehen und langgezogene hohe Wellensysteme bilden. Und dann sind da noch Wolken in verschiedensten Formen und Windrichtungen, die mir das Leben als Seglerin leichter oder doch erheblich schwerer bis gefährlicher machen.

Ich staune angesichts dieser Komplexität in einem Wissensbereich, der viele tausende Jahre alt ist. Weltweit haben Menschen über Generationen ihre Erfahrungen im Umgang mit Wind, Wellen und vielem mehr weitergegeben und vertieft. Auf dem Meer zeigen sich die Kräfte der Natur in all ihrer Dynamik. Alles ist in Bewegung, alles hängt voneinander ab, beeinflusst sich gegenseitig und der Mensch mit seinem Boot und seiner Technik sitzt als Gast irgendwo mittendrin, spielt mit, versucht sein Ziel anzuvisieren und ihm näher zu kommen.

Was gibt Halt und Orientierung inmitten dieses Zusammenspiels so unterschiedlichster bedeutsamer Systeme und Wirkweisen?

  • Achtsames, tieferreichendes Wahrnehmen der Beteiligten in diesem Zusammenspiel: Wie interagieren sie? Was verstärkt sich, was hebt sich gegenseitig auf, was provoziert etwas ganz Neues? Welcher Rhythmus zeigt sich?

  • Demut im Hinblick auf die eigene Rolle: Wir sind nur ein Player unter vielen – und doch macht es einen Unterschied. Vielleicht nicht für das große Zusammenspiel, aber doch für uns selbst. Was entzieht sich kategorisch unserer Verfügbarkeit? Was können und wollen wir beitragen und womit setzen wir unser Boot auf Grund?

  • Vergewisserung der eigenen bewährten Ressourcen:  Wie können wir sie in dieses Zusammenspiel sinnvoll einbringen? Wie müssen wir sie im Abgleich mit jenem, was uns gerade begegnet, hinterfragen, neu betrachten, neu einsetzten?

  • Mut zum nächsten Schritt, weil bei aller Planung und Vorbereitung sich hier und jetzt nochmals alles ganz anders zeigen kann.

  • Sich an den Wind stellen, weil nicht alle Schritte von uns getan werden müssen und der richtige Wind uns Flügel zu verleihen vermag.

"Participation is not a choice"
Margaret Wheatley

mittelbraune, dicht stehende Pilzfamilie

"Beteiligung ist keine Wahlmöglichkeit", lässt sich die pointierte Aussage von Margaret Wheatley, amerikanische Schriftstellerin und Unternehmensberaterin, übersetzen.* Vorgängig aller Diskussionen, wer woran zu beteiligen sei, besteht bereits grundlegend Verbindung. Natürlich, von oben betrachtet, sind das Einzelne, die aufs Erste von einander unterscheidbar, ablösbar und vielleicht sogar austauschbar zu sein scheinen. Wer tiefer blickt, - noch etwas tiefer - kann kaum noch unterscheiden, wer/was wo beginnt und endet, wer was ermöglicht oder erhält.

 

Werde ich gefragt, warum ich das tue, was ich als Prozessbegleiterin eben tue - Räume für eine Kommunikation eröffnen, in denen sich die Beteiligten mit einer gemeinsamen Ausrichtung mit ihren Wahrnehmungen und Perspektiven, ihren Erfahrungen und ihrem Können möglichst gut einbringen können - , kann ich mehrere Antworten geben:

  • für Effizienzorientierte: Es ist eine Frage der Ressourcenorientierung, die vorhandenen Kompetenzen der Beteiligten fokussiert einzuholen und einzubinden. Sie verlieren als Unternehmen/Organisationen, wenn Sie diese ausblenden.

  • für Motivationsorientierte: Je eher Sie Ihre Mitarbeitenden zur Mitgestaltung einladen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit Energie und Leidenschaft an der Umsetzung des gemeinsamen Ziels arbeiten.

  • für Wertorientierte: Unternehmen/Organisationen schaffen einen Mehrwert für die Gesellschaft, vor allem, wenn Menschen darin auch Sinn und Gelegenheit zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Ideen finden.

  • für Erkenntnisorientierte: Die Vielfalt an Perspektiven und langjährigen Erfahrungen, die Ihre Mitarbeitenden mitbringen, übersteigt jene des kleinen ExpertInnengremiums, das bereits alles zu wissen glaubt, um ein Vielfaches.

  • für mich: nur wenn wir miteinander auf Augenhöhe zusammentragen, was wir an sich gegenseitig bedingender Komplexität in dieser Welt erfahren, werden wir Lernwege beschreiten und Lösungen entwickeln, die Zukunft für uns alle und alles haben.

* http://scott.london/interviews/wheatley.html

(M)ein Stein

Stein

Wie können wir verstehen, was etwas zu genau diesem Etwas macht? Nehmen wir einen Stein, diesen ganz bestimmten Stein, der seit zehn Jahren in meinem Regal liegt. Was macht diesen Stein aus?
 

Ein Weg das herauszufinden, kann darin bestehen, den Stein zu vermessen und zu wiegen: Laut DIN 4022 haben wir es mit einem Stein zu tun, da er über 63 mm groß ist. Wir können den Stein zerschneiden und in immer kleinere Teile zerlegen. Es lassen sich Mineralien zu unterschiedlichen Anteilen bestimmen. Wir können ihn möglicherweise zu Zement weiterverarbeiten und damit Ziegel befestigen. Verstehen wir jetzt besser, was diesen Stein ausmacht? Hans-Peter Dürr würde sagen: Wir können ihn „be-greifen“, weil wir ihn manipulieren, d.h. mit unseren Händen nach unserem Willen verändern. Allerdings haben wir nur mehr Teile vor uns, die mit dem Stein kaum mehr etwas gemeinsam haben.
 

Ein anderer Weg zu verstehen, liegt darin, den Stein in der Art und Weise, wie er mit anderem verbunden ist, zu betrachten. Ich habe ihn bei einem abendlichen Spaziergang an den Küsten von Scapa Flow ausgewählt – oder er mich. Der orkadische Wind pfiff um meine Ohren, mein Weg führte mich bei Ebbe entlang der rhythmisch an die Steine schäumenden Wellen. In einiger Entfernung hörte ich Robben rufen. Womöglich vertrat sich genau hier 1780 James Cook nochmals die Beine, bevor er in der wenige hundert Meter entfernten Bucht von Stromness mit seiner Mannschaft zur Weltumsegelung aufbrach. Wie viele Generationen von Mikroorganismen, größeren Lebewesen und Sedimenten, wie viele tektonische Verschiebungen und Überlagerungen hat es wohl gebraucht, bis der Stein Schicht für Schicht so verdichtet vor mir liegt? Wie viele Jahrhunderte mag es gedauert haben, bis im zweimal täglichen Wechsel der Gezeiten im Einfluss der Gravitation von Sonne und Mond der Stein aus einem Felsen losgelöst wurde und so rund wie heute vor mir liegt?
 

Welchen Unterschied macht es, auf die erste oder zweite Weise zu verstehen? “Oh, Sie meinen: Alles ist relativ!“ bringt es Herr Geiger beim Seminar überrascht auf den Punkt. Und ich kann ihm nur zustimmen. Ja, genau das wollte ich auf den Spuren von Albert Einstein, Franz Rosenzweig, Martin Buber, David Bohm, Gregory und Nora Bateson, Hans-Peter Dürr … weitergeben: Alles ist relativ, alles ist in Beziehung. Und es hat Konsequenzen für unsere Art und Weise wahrzunehmen, zu denken und zu handeln.

Instabilität heißt höchste Sensibilität

"Haben Sie schon einmal überlegt, warum wir auf zwei Beinen laufen und nicht auf drei? Ja, wenn ich drei Beine hätte, wäre ich ganz schön stabil. Aber dann wäre all das aus, was wir Leben nennen.  [...]  Wenn Sie lebendig sein wollen, müssen Sie die Instabilität haben und damit auch die Unsicherheit. Dieses Gefühl ist nicht immer gut, aber es ist dann doch sehr fruchtbar." [1]

Um eine derartige Leidenschaft für Instabilität zu entwickeln, wie sie der deutsche Physiker und Essayist Hans-Peter Dürr (*1929 † 2014) zum Ausdruck bringt, braucht es wohl lebenslange Erprobung - oder hinreichende Kenntnisse der Quantenphysik. Gemeint ist eine Form von Balancierung, ein fortlaufendes, dynamisches Austarieren von sich anbietenden Extremen unter Einbeziehung vielfältiger Umfeldfaktoren - ohne den Anspruch, diesen Prozess jemals ganz in der Hand zu haben. Dem gegenüber ist ein alltäglicher Balance-Begriff auf Stabilität ausgerichtet, gepaart mit der Vorstellung es gälte möglichst oft oder auf Dauer den idealen Punkt zu finden, in dem alles zur Mitte und zum statischen Ausgleich kommt.

Die Entscheidung liegt bei jedem/jeder Einzelnen, ob die eigene Orientierung mehr auf eine sensible Instabilität ausgerichtet ist oder auf das Ergebnis eines beharrlichen Strebens nach dem unverrückbaren Absoluten. Entsprechend werden Veränderungen, Begrenzungen und Spielräume als Impuls zu Entfaltung oder aber Bedrohung von bereits Vertrautem eingestuft,  gestalten sich in der Folge die Abschätzung von Risikofaktoren, die Formulierung von Erfolgskriterien und die darauf ausgerichteten Schritte.

Letztlich ist es eine Entscheidung, wie ich die Welt und meinen Beitrag dazu betrachten möchte:
"Nun, ich stehe auf zwei Beinen ... [die sagen abwechselnd zueinander] 'wenn du fällst, dann gehe ich nach vorne' und 'wenn du fällst dann gehe ich nach vorne' - und jetzt kann ich laufen. Zwei instabile hochsensible Systeme, wenn die miteinander kooperieren [...] dann gibt es einen dynamischen Prozess, eine dynamische Stabilisierung, die mir erlaubt nicht zu fallen und hunderte von Kilometern zu laufen. Jetzt haben wir wirklich die Grundlagen des Lebendigen."[1]

[1] Hans-Peter Dürr, "Das Pendel", Umwelttage Basel Juni 2009

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