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Kein Gewinnen "gegen" ...

2015 durfte ich einige Tage auf Island verbringen – ein seit meiner Kindheit gehegter Traum wurde wahr! Wie ein Vorwort für meine Erkundungen erwartete mich auf dem Wohnzimmertisch unseres Gastgebers in Reykjavik ein Buch mit großartigen Luftbildaufnahmen und Texten von Gudmundir Andrei Thorsson. Es eröffnete mir den Blick für ein Land, in dem die unfassbar kraftvolle Mitnatur − geprägt von geologischen Bruchlinien, Vulkanen, stürmischem Nordmeer, Mitternachtssonne, Wind, Wetter und robusten kleineren und größeren Lebewesen − dem Menschen da und dort seinen Platz zuweist. Hier darf er sein, wenn er sich entsprechend einfügt. In diesem scheinbar so abgegrenzten Land sind Wechselwirkungen leichter erkennbar, auch dann, wenn sich der Mensch gegen seine Mitnatur wendet. Ich war unglaublich beeindruckt von diesem Land und den Menschen, denen ich dort begegnete. Ich verließ es mit einem leisen Bedauern, dass ich vermutlich nicht stark genug bin, um hier längerfristig zu leben.


Gestern unterhielten wir uns bei einer online-Gesprächsrunde darüber, was es bedeuten könnte, auf eine Weise zu leben, die Zukunft hat. Ich erzählte von meinen Eindrücken in Island. Julia Macintosh hörte aufmerksam zu und gab schließlich mit frappierender Punktlandung zu bedenken: Möglicherweise könnte „stärker zu werden“ bedeuten, fähig zu sein, in mehr Ko-Existenz zu leben.


Abends folgte ich den Gesprächen im Rahmen der Bateson Anniversaries zu Ecology & Multiple Description und erneut wurde ich mit einem Puzzleteil beschenkt – schon oft gehört und doch erst jetzt wirklich begriffen. Rex Weyler formuliert auf den Spuren Gregory Batesons: Es gibt keine scharfen Grenzen, nicht zwischen den kleinsten Einheiten der Materie, nicht zwischen Menschen, nicht in der Mitnatur, nicht zwischen Menschen und Mitnatur. Wir sind zutiefst und unauflösbar miteinander verflochten. Und selbst wenn wir Grenzen ziehen, ist jede Grenze willkürlich und bildet nicht wirklich etwas ab. Es ist folglich eine Illusion zu glauben, wir könnten „gegen“ irgendjemanden oder irgendetwas „gewinnen“, sei es gegen Kräfte der Natur oder den Klimawandel, seien es politische oder kriegerische Parteien, sei es im Kampf um die Meinungsführerschaft oder den rechten Weg zwischen jenen, die vehement für eine kapitalistische Ausbeutung oder  dezidierte ökologische Weichenstellungen eintreten … Es gibt kein "Gewinnen gegen ...". Ein erster Schritt, diesem Umstand gerecht zu werden, liege in einer entsprechenden Sprache.


Wer sich die brennenden Fragen unserer Zeit zu Herzen nimmt, fragt sich meist kopfschüttelnd: Wo anfangen? Mehr denn je habe ich gestern gelernt: Mich selbst in eine Lebenskompetenz und Sprache der Ko-Existenz einzuüben, die vor nichts und niemandem eine Scheingrenze setzt, ist radikale Zuwendung zur Welt und eröffnet ein neues Verständnis von Stärke – im Kleinen wie im Großen.

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